Unternehmensmitbestimmung europarechtswidrig? Pressemitteilung von B&P
Frankfurt am Main, 26. Oktober 2015. Die deutsche Arbeitnehmermitbestimmung im Aufsichtsrat verstößt in ihrer konkreten Ausgestaltung möglicherweise gegen Europarecht und findet keine Anwendung mehr. Nach dem Mitbestimmungsrecht werden im Aufsichtsrat deutscher Aktiengesellschaften nur im Inland, nicht aber im Ausland tätige Arbeitnehmer repräsentiert. Das Kammergericht Berlin hat dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Beschluss vom 16. Oktober 2015 (14 W 89/15) die Frage vorgelegt, ob dies mit dem europäischen Diskriminierungsverbot und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbar ist. Ist dies nicht der Fall, ist das deutsche Mitbestimmungsrecht unanwendbar und alle Aufsichtsräte sind ausschließlich mit Aktionärsvertretern zu besetzen. Die Vorlage erfolgte im Rahmen eines aktienrechtlichen Statusverfahrens bei der TUI AG, die in Deutschland ca. 10.000 Arbeitnehmer und im europäischen Ausland ca. 40.000 Arbeitnehmer beschäftigt.
In dem zu Grunde liegenden Statusverfahren nach § 98 AktG vertritt Brandhoff & Partner Rechtsanwälte die Rechtsauffassung des Antragstellers Konrad Erzberger, dass der Aufsichtsrat der TUI AG falsch besetzt sei. Anstatt nach dem Mitbestimmungsgesetz paritätisch aus Aktionärs- und Arbeitnehmervertretern sei er ausschließlich aus Aktionärsvertretern zusammenzusetzen. Das Mitbestimmungsgesetz dürfe nämlich nicht angewendet werden, weil es im Widerspruch zu EU-Recht stehe (sog. Anwendungsvorrang des Europarechts). Bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat sind nach allgemeiner Praxis nur im Inland tätige Arbeitnehmer aktiv und passiv wahlberechtigt; im Ausland tätige Arbeitnehmer (etwa in ausländischen Betrieben oder Tochtergesellschaften) sind von den Wahlen ausgeschlossen. Der Argumentation von Brandhoff & Partner folgend hält das Kammergericht es für möglich, dass diese Rechtslage gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot und die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt. Die nunmehr erfolgte Vorlage an den Europäischen Gerichtshof wird in dieser für die Corporate Governance zentralen Frage Klarheit schaffen. Sie hatte in der gesellschaftsrechtlichen Beratungspraxis zuletzt zu erheblicher Verunsicherung geführt.
Während das Landgericht Frankfurt a.M. kürzlich mit Blick auf den Aufsichtsrat der Deutsche Börse AG entschieden hatte, dass ausländische Arbeitnehmer bei der Ermittlung der für die Mitbestimmungsintensität relevanten Arbeitnehmerzahl mitzuzählen sind, steht in dem von Brandhoff & Partner geführten Verfahren nicht die Ausweitung der Mitbestimmung zur Debatte. Sondern es geht um die Frage, ob die deutschen Mitbestimmungsregeln europarechtswidrig sind und deshalb bis zu einer europarechtskonformen Neuregelung durch den Gesetzgeber keine Anwendung mehr finden können. Darüber besteht in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und im rechtswissenschaftlichen Schrifttum keine Einigkeit.
Das Verfahren hat Auswirkungen auf sämtliche Gesellschaften, die nach Maßgabe des Mitbestimmungsgesetzes über einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat verfügen. Das betrifft derzeit 635 Gesellschaften. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die europarechtlichen Bedenken gegen die Ausgestaltung der unternehmerischen Mitbestimmung auch diejenigen Gesellschaften betreffen, deren Aufsichtsrat nach Maßgabe des Drittelbeteiligungsgesetzes zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern besteht. Das sind weitere ca. 1.500 Gesellschaften. Die betroffenen Gesellschaften sollten die weitere Entwicklung verfolgen und der Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung ihres Aufsichtsrats besondere Aufmerksamkeit widmen.
– Ende der Mitteilung, Länge: 3730 Zeichen einschließlich Leerzeichen –
Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an:
Rechtsanwalt Dr. Jochen Brandhoff (Partner) oder an Dr. Caspar Behme (Of Counsel),
Brandhoff & Partner Rechtsanwälte mbB, Kaiserstraße 53, 60329 Frankfurt a.M.,
+49 69 34 879 20-0, j.brandhoff(@)brandhoff.com und c.behme(@)brandhoff.com.
Brandhoff & Partner ist eine international tätige Wirtschaftskanzlei aus Frankfurt am Main. Beratungsschwerpunkte bilden Unternehmenskäufe und -zusammenschlüsse (Mergers & Acquisitions), Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Vertragsgestaltung und Handelsrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht sowie Erneuerbare Energien. Die Beratung im Gesellschaftsrecht umfasst regelmäßig Fragen der Corporate Governance und der Corporate Litigation. Zu den Mandanten der Kanzlei zählen angesehene Unternehmen aus Industrie und Handel sowie Banken und Investoren. Neben ihrer Rechts- und Steuerberatung auf höchstem Niveau zeichnet sich die Kanzlei durch ihr besonderes wirtschaftliches Know-how aus. Ihre Anwälte waren vor ihrem Kanzleieintritt als Syndizi, General Counsel oder Geschäftsführer in Unternehmen oder Banken tätig.